Ein Kurswechsel in der Landes- und Bundespolitik tut Not
von Peter Lichtenthäler (stellvertretender Fraktionsvorsitzender) im Podium der demokratischen Parteien am Samstag, 26.08.2023
Halt! So geht es nicht mehr weiter! Mit diesen Worten rief Bürgermeister Matthias Baaß in der letzten Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vor der Sommerpause eindringlich zu einem Kurswechsel in der Landes- und Bundespolitik auf. Mit seinem Appell steht er keineswegs allein da, etliche Amtskolleg:innen aus dem hessischen Städte- und Gemeindebund senden derzeit die gleiche Botschaft: Obwohl die Leistungsgrenze der Kommunen bereits deutlich überschritten sei, würden ihnen von Bund und Land immer neue Aufgaben übertragen und bürokratische Pflichten auferlegt.
Durch die Gesetzgebung von Bund und Land werden immer mehr Aufgaben zur Pflicht gemacht, ohne vor Ort für ausreichende Ressourcen zu sorgen. Zudem werden die Anforderungen an diese Pflichtaufgaben immer weiter erhöht. Das Maß an öffentlichen Leistungsversprechen passe schon länger nicht mehr mit dem zusammen, was die Leistungsfähigkeit hergibt, nicht nur wegen finanzieller Knappheit, sondern auch wegen fehlender personeller Ressourcen und überbordenden bürokratischen Anforderungen. Das Ergebnis: Die Zufriedenheit mit dem Funktionieren unserer Demokratie geht zurück und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates befindet sich aktuell auf einem Tiefstand.
Beispiel Kinder- und Seniorenbetreuung: Schon heute führt der Fachkräftemangel bei Erzieherinnen und Erziehern regelmäßig zu Notbetrieb in Krippen- und Kindergartengruppen. Der Dekan der evangelischen Kirche des Wetteraukreises, Pfarrer Volkhard Guth, wandte sich bereits im Oktober 2022 in einem offenen Brief an den hessischen Sozialminister:
„Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist die Arbeit mit den Kindern in unseren Kindertagesstätten weder leistbar noch verantwortbar. Und sie entspricht nicht mehr den Grundsätzen und Prinzipien, wie sie im Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder des Landes Hessen formuliert werden. Und das ist nicht die Schuld der ErzieherInnen oder der Träger. Das ist ein Systemfehler, dem ein Systemversagen zu folgen droht!“
Der Fachkräftemangel kam nicht überraschend, sondern war seit Jahren absehbar. Anstatt dieser Realität Rechnung zu tragen, wurde ein zusätzlicher Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung im Grundschulalter geschaffen. Im Ergebnis: werden weitere Fachkräfte nach Definition des Gesetzes gebraucht – und wenn diese nicht verfügbar sind, dürfen die Leistungen nicht angeboten werden.
Manche gut gemeinte Richtlinie wirkt mitunter kontraproduktiv: Der Mindestfachkraftschlüssel in hessischen Kitas wurde mehrfach erhöht, zuletzt im Zuge des sog. Gute-Kita-Gesetzes. Was einmal zur Verbesserung der Qualität gedacht war, hat heute nicht selten die Einschränkung von Öffnungszeiten zur Folge. In der Pflege werden aus dem gleichen Grund heute schon die ersten Altersheime geschlossen: Das Unterschreiten der gesetzlichen Fachkraftquote führt dort dazu, dass nicht mehr alle Pflegebetten belegt werden dürfen, und die ersten Heime geraten deshalb in wirtschaftliche Schieflage. In einer Zeit, in der Kinderbetreuungs- und Pflegeplätze dringend benötigt werden, sind solche Vorschriften realitätsfern und wirken kontraproduktiv.
Zusatzaufgaben führen zu Zusatzbürokratie: Seit Jahren kommen immer mehr bürokratische Pflichten auf die Leiter:innen und Träger der Einrichtungen zu: Anträge, Gutachten und Berichte, Statistiken und Verwendungsnachweise verschlingen Unmengen an Zeit am Computer, die in der Arbeit mit den Menschen fehlt. Ob das zu einer Qualitätsverbesserung beträgt, muss bezweifelt werden.
Es braucht wieder mehr Vertrauen in die örtlichen Strukturen. Warum beschränken sich staatliche Regelungen nicht auf realistische Mindestvorgaben, für die auch die nötigen Ressourcen verfügbar sind? Warum traut man den Trägern und der Leitung einer Kindertagesstätte oder eines Seniorenheims nicht die Verantwortung zu, in Zeiten des Fachkräftemangels geeignete Zusatzkräfte auszuwählen, im Team zur Entlastung einzusetzen und berufsbegleitend zu qualifizieren? Was wir brauchen, ist mehr Vertrauen in die Kompetenz und Verantwortung der örtlichen Entscheidungsträger:innen und Fachleute statt mehr Bürokratie, Vorgaben und Kontrollen. Gerade aus der örtlichen Lösungssuche könnten sich vielfältige, unterschiedliche Handlungsoptionen ergeben, von denen sich im Zeitverlauf die bewährteren herumsprechen und durchsetzen könnten.
Und es braucht eine Finanzausstattung der Kommunen, die die Erfüllung der Aufgaben auch zulässt.
Simone Reiners, Kandidatin bei der Landtagswahl für unseren Landkreis, meint dazu:
„Auf Förderprogramme, die vor allem Bürokratisierung fördern und Arbeitskräfte in den Rathäusern binden, können wir gerne verzichten. Ich will, dass die Städte und Gemeinden den finanziellen Spielraum haben und behalten, um mehr zu leisten als die Grundversorgung! Freibäder, Hallenbäder, Bibliotheken, ordentliche Sportplätze, Altenpflege … All das und noch viel mehr gehört zur Daseinsvorsorge und muss möglich sein. Denn hier leben wir. Hier haben wir unsere sozialen Kontakte, hier engagieren wir uns!“